Politik war nie ein einfaches Business, aber selten war Politik derart lärmig, wie heute – 24 Stunden am Tag wird argumentiert, geschrien, gepöbelt und manipuliert. Meistens nicht auf der Strasse, am Arbeitsplatz, im Restaurant oder Zuhause - gottseidank. Dafür im Internet. Die digitale Gesellschaft mit ihren 24-Stunden-Medien und der unendlichen Zahl von Meinungen generiert nach vermeintlich wichtigen Ereignissen eine News-Kakophonie, die zum Ohrensausen führt. Umso wichtiger wäre die Einordnungsfunktion der professionellen Medien - auch was die digitalen Aspekte der Ereignisse betrifft.
Die Macher von Heatsreet.com/uk publizieren Scripts, die zur Manipulation der Brexit-Petition eingesetzt wurden. Screenshot heatstreet.com |
Das ging aber schnell: Kaum war die Abstimmung vorbei, erschallte der Ruf nach einer erneuten Abstimmung. Die Medien nahmen die Forderung dankbar auf; sie wurde weltweit verbreitet, generierte Schlagzeilen, meist digitaler Art, wurde kommentiert und beworben.
“Über drei Millionen Briten fordern ein neues Referendum“ titelte die Schweizer Handelszeitung, die ja eigentlich in einem Land erscheint, wo Abstimmungen in mehrmals jährlich stattfinden (und wo ein Ergebnis mit fast vier Prozent Unterschied zwischen Ja und nein Stimmen als klare demokratische Meinungsäusserung und nicht als “hauchdünnes“ Resultat gilt).
Die Handelszeitung war natürlich nicht allein und die Schlagzeilen häuften sich fast so schnell, wie die Namen auf der Petition:
Mehr als eine Million Briten wollen nochmals abstimmen (Die Zeit)
2 Millionen Briten stimmen für zweites Brexit Referendum (Die Welt)
Abstimmen, bis das Ergebnis passt? Briten fordern neues Brexit-Votum (Blick)
Briten fordern zweite Abstimmung (Focus)
Nur hinterfragt wurde sie nicht, die Story, die so schön ins Brexit-Tohuwabohu passte – bis dann am Wochenende die britische Zeitung „The Telegraph“ endlich kritische Töne anschlug, als sich herausstellte, dass zehntausende der in den Schlagzeilen erwähnten "Briten", nicht sehr britisch sind.
Abgesehen davon, dass man diejenigen, welche Stunden nach einer Abstimmung sofort eine Wiederholung der Abstimmung verlangen, wohl ohne sich auf einen Ast hinaus zu wagen, als schlechte Verlierer bezeichnen darf, hätte man von den etablierten Medien auch etwas mehr Skepsis gegenüber der zitierten Petition erwarten dürfen. Fragen, die sich in diesem Zusammenhang geradezu aufdrängen, wären zum Beispiel:
- Wer kann digital seine Stimme abgeben?
- Wie einfach ist es, eine digitale Petitionsstimme zu fälschen?
- Woher kommen die Millionen von Menschen, die sich für ein erneutes Plebiszit aussprechen?
Zumindest die letzte Frage liess sich schon früh klar beantworten. Petitionsstimmen wurden an den erstaunlichsten Orten abgeben: Zehntausende der Stimmen kamen aus dem Vatikan, aus Nord Korea und aus Frankreich.
Auch die erste und die zweite Frage waren (übrigens schon lange vor dem Brexit) relativ einfach zu beantworten. Abstimmen auf Websites ist extrem einfach, das können nicht nur engagierte Bürger, sondern auch Softwarebots – und zwar gleich tausendfach. Und die Manipulation ist nicht mal besonders schwierig, wie die Hacker von 4chan.org bewiesen haben.
Immerhin haben die Briten ob all dem Brexit- Tumult ihren Humor noch nicht verloren. Englische Fussballfans gehen davon aus, dass auch sie petitionieren können und verlangen online, dass das Spiel zwischen England und Island im Falle einer Englischen Niederlage so oft wiederholt werde, bis das gewünschte Resultat erzielt sei.
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